Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 3 (Seine-Maritime)

Teil 1 des Beitrags gibt es hier, Teil 2 hier.

Flagge der Normandie. © M. Busch

Département Seine-Maritime

Zwischen Le Havre im Westen und Le Tréport an der Grenze zur Picardie im Osten erstreckt sich über gut 140 Kilometer die Côte d’Albâtre, der für seine Kreidefelsen, Steilküste, Schluchten und Kiesstränden berühmte Küsteabschnitt des Départements Seine-Maritime. An den Stränden gibt es im Juli und August eine ganz besondere Attraktion: 13 „Lire-à-la-plage“-Hütten mit über 13.000 Büchern aller Genres und exklusiv für Leserinnen und Leser reservierten, mit Liegestühlen und Sitzgelegenheiten bestückten Holzterrassen. Hier kann man kostenfrei und zeitlich unbegrenzt schmökern, in mitgebrachter Lektüre oder Entdeckungen vor Ort. Was für eine tolle Marketingaktion für das Lesen!

Lire à la plage an der Côte d’Albâtre. © B. Busch

Zum Beginn des Schuljahres 1931 wurde Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) als Gymnasiallehrer für Philosophie nach Le Havre geschickt, wo er mit einer Unterbrechung bis 1936 blieb. Obwohl Simone de Beauvoir (1908 -1986) ab 1932 in Rouen unterrichtete und die Entfernung damit nicht mehr so groß wie nach Paris war, fühlte sich Sartre einsam, deplatziert und zunehmend depressiv.

Blick auf die Hafenanlagen von Le Havre. © M. Busch

Unweit der Côte d’Albâtre im Landesinneren und 20 Kilometer nordöstlich von Le Havre liegt das Dorf Cuverville. Hier heiratete der Literaturnobelpreisträger von 1947 André Gide (1868 – 1951) im Oktober 1895 seine Cousine Madeleine, eine Verbindung, die er aufgrund seiner Homosexualität als „die verborgene Tragödie“ seines Lebens bezeichnete. Die Ehe blieb dennoch bis zum Tod seiner Frau 1938 bestehen. Das Manoir de Cuverville aus dem Jahr 1730 hatte Madeleine geerbt. Als Kind verbrachte André Gide oft seine Ferien in Cuverville, während seiner Ehe hielt er sich häufig dort auf, empfing Besucher wie die Schriftstellerkollegen Roger Martin du Gard (1881 – 1958), Literaturnobelpreisträger 1937, Paul Valéry (1871 – 1945) oder Alain Fournier (1886 – 1914) und beschrieb das Haus in seinen Romanen. Die enge Tür, die seinem Roman La porte étroite (1909) den Titel gab, befindet sich hier, allerdings ist das Haus heute in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Auf dem Friedhof von Cuverville ist das Ehepaar Gide begraben.

Cuverville und André Gide. © B.&M. Busch

Ebenfalls in Privatbesitz, nur auf Anfrage zu besichtigen und leider gänzlich hinter Bäumen versteckt, liegt das Haus von Guy de Maupassant (1850 – 1893) in Étretat. Lediglich die Einfahrt und das Schild mit dem Namen des Hauses, „La Guillette“, ist von der Straße aus zu sehen. Von einem höher gelegenen Weg in einiger Entfernung erkennt man immerhin einen kleinen Zipfel der großen Villa im mediterranen Stil. Guy de Maupassant, geboren wahrscheinlich im Château de Miromesnil im Norden des Départements Seine-Maritime, lebte nach der Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter in Étretat und baute sich dort 1883 die Villa, in der er fortan mehrere Monate im Jahr verbrachte und schrieb.

Villa La Guillette von Guy de Maupassant in Étretat. © M.&B. Busch

Guy de Maupassant liebte die Normandie und die Felsen von Étretat, denen er in seinem berühmten Roman La vie (1883, deutsch: Ein Leben, 1894) ein Denkmal setzte: „…et là-bas, en avant, une roche d’une forme étrange, arrondie et percée à jour, avait à peu près la figure d’un éléphant énorme enfonçant sa trompe dans les flots. C’était la petite porte d’Étretat. […] Et soudain on découvrit les grandes arcades d’Étretat, pareilles à deux jambes de la falaise marchant dans la mer, hautes à servir d’arche à des navires; tandis qu’une aiguille de roche blanche et pointue se dressait devant la première.“

Felsen von Étretat. © B. Busch

Im Gegensatz zu La Guillette ist Le clos Arsène Lupin, in der gleichen Straße gelegen, heute ein Museum. Der Autor und Erfinder des Gentleman-Gauners und Meisterdiebs Arsène Lupin, der in Rouen geborene Maurice Leblanc (1864 – 1941), kaufte die 1854 im Stil der Belle Époque erbaute Villa 1918 und wohnte dort 20 Jahre lang. Mehrere Bände der Arsène-Lupin-Reihe spielen an der Côte d’Âlbâtre, L’Aiguille creuse aus dem Jahr 1909 teilweise direkt an den Felsen von Étretat (deutsch: Die hohle Nadel, 1914, bzw. Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich, Verlag Matthes & Seitz 2008).

Le clos Arsène Lupin in Étretat. © M.&B. Busch

Überhaupt haben die Felsen von Étretat zahlreiche Autorinnen und Autoren inspiriert, zu Krimis vor allem, aber auch zu Romanen. Zwei von ihnen möchte ich unbedingt noch lesen: Die Steinesammlerin von Étretat von Gerd Heidenreich und Klippen von Olivier Adam.

Im Inneren des Départements Seine-Maritime liegt das Städtchen Lillebonne, in dem die Literaturnobelpreisträgerin 2022 Annie Ernaux (*1940) zur Welt kam. Nur 25 Kilometer entfernt wuchs sie in Yvetot im gleichen Département auf. Während der Reise habe ich endlich mein erstes Buch von ihr gelesen, Die Jahre, und war begeistert von der erzählerischen Dichte und dem Rhythmus dieser „unpersönlichen Autobiografie“.

Annie Ernaux. © B. Busch

Direkt an der Seine liegt das entzückende Dorf Villequier, wo sich am 4. September 1843 ein schreckliches Unglück ereignete: Bei einem Bootsunfall ertranken Léopoldine, die schwangere Tochter von Victor Hugo (1802 – 1885), sowie ihr Mann Charles Vacquerie und zwei Verwandte. Im Haus der Familie Vacquerie in prächtiger Lage direkt an einer Schleife der Seine gelegen, wo der berühmte Schriftsteller mehrmals logierte, erinnert heute ein Museum, das Maison Victor Hugo, an ihn. Neben seinen Romanen, darunter Der Glöckner von Notre Dame von 1831 und Die Elenden von 1862, seinen Dramen, Reisebeschreibungen und Gedichten engagierte sich Victor Hugo auch politisch und setzte sich zusammen mit Honoré de Balzac (1799 – 1850) für ein Urheberrecht zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst ein. 

Villequier und das Maison Victor Hugo. © B. Busch

Unsere letzte Urlaubsstation, die Abbaye de Jumiège, liegt ebenfalls in einer Schleife der Seine und galt Victor Hugo als „schönste Ruine Frankreichs“. Nach einer wechselvollen Geschichte besiegelten die Religionskriege und die Französische Revolution das Ende dieses einst prachtvollen und mächtigen Klosters.

Abbaye de Jumiège. © B. Busch

Direkt gegenüber der Ruine begegnet man einer Gedenktafel an Maurice Leblanc, dem Vater der Arsène-Lupin-Reihe, der hier oft zu Gast war und sich von der Schönheit der Natur und der Ruinen inspirieren ließ.

Jumiège. © B. Busch

Leider ist auch der schönste Urlaub irgendwann vorbei, so dass für den geplanten Besuch in der normannischen Hauptstadt Rouen am Ende keine Zeit mehr blieb. Schade, denn es hätte dort weitere literarische Bezüge gegeben: zu Gustave Flaubert, Pierre Corneille, Simone de Beauvoir. Gerne hätte ich auch noch das 20 Kilometer von Rouen entfernte Dorf Ry besucht, wo – getarnt als Yonville-l’Abbaye – Gustave Flauberts berühmtester Roman Madame Bovary aus dem Jahr 1856 spielt, „ein Sittenbild aus der Provinz“. Manches Gebäude lässt sich wohl unschwer erkennen und das literarische Vorbild, die unglückliche Delphine Delamare (1822 – 1848), liegt auf dem örtlichen Friedhof begraben.

Grund und Stoff genug also für eine weitere Reise in die Normandie und eine Fortsetzung dieser Impressionen…irgendwann…

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